Packard – the next shift
Hi there!
Polizeichef Captain Renault fährt in “Casablanca” damit vor. In “Der Pate” kommen gleich mehrere zum Einsatz. Präsident Roosevelt nutzte ihn als Dienstlimousine. Automobile der “Packard Motor Car Company” zählten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zum Feinsten, was die amerikanische Autoindustrie zu bieten hatte. Die ursprünglich aus Ohio stammenden Packard Brüder lassen sich 1904 am East Grand Boulevard nieder. Dort, wo zuvor deutsche Einwanderer ihre Farmen betrieben, entsteht die erste Autofabrik aus Stahlbeton. Auf 16 Hektar Land baut der legendäre Architekt Albert Kahn einen Komplex mit 325.000 Quadratmetern Gebäudeflächen. Die Packard Plant ist Teil des gewaltigen industriellen Aufschwungs im Mittleren Westen der USA und beschäftigt zu ihren Hochzeiten fast 40.000 Menschen. Der Zweite Weltkrieg bringt die Produktion zum Erliegen. Packard produziert während der Kriegsjahre Flugzeugmotoren für Rolls Royce. Nach Kriegsende passieren wieder luxuriöse Automobile die Werkstore. Jedoch kämpft das Unternehmen gegen die mächtige Konkurrenz der “Big Three” Ford, General Motors und Chrysler. In einem Versuch, die Produktionskosten zu senken, fusioniert Packard 1954 mit dem kleineren Wettbewerber Studebaker. Das letzte reine Packard Model läuft 1956 am East Grand Boulevard vom Band. Die neue Unternehmensführung hat die Schließung der Packard Plant beschlossen. Über die nächsten 60 Jahre wird sie zur größten Industrieruine der Welt.
Teilbereiche der Fabrik werden in den folgenden Jahrzehnten zunächst durch verschiedene Firmen belegt, der Rest beginnt zu verfallen. Nach und nach ziehen Mieter aus, 2006 verlässt das letzte Unternehmen die Packard Plant. Das gigantische Areal ist nun endgültig dem Verfall ausgesetzt. Wo einst luxuriöse Fahrzeuge zusammengeschraubt wurden, riskieren nun “scraper” (Metalldiebe) für schnellen Cash Gesundheit und Leben. Sie flexen Stahl und Eisen aus den Gebäuden heraus. Holz wird in ihren Häusern verfeuert. Eine tote Autofabrik wird demontiert, um das eigene Überleben zu sichern. Es brennt oft tagelang. Schmelzende Eisenträger sorgen für weitere Zerstörung. Andere nutzen die riesige Ruine zu ihrem Vergnügen und veranstalten in den Trümmern Paintball-Schlachten und Techno-Partys. Graffiti Künstler machen die Wände der ehemaligen Autofabrik zu ihrer Leinwand. Fotografen und Neugierige aus aller Welt sind fasziniert von der bizarren, desolaten Schönheit der Ruine. 2010 wird sogar ein Wandbild des anonymen britischen Künstlers Banksy entdeckt. Zahlreiche Filme wie Transformers und Batman vs Superman werden hier gedreht. Die Natur erobert sich im Laufe der Jahre große Teile zurück. Bäume wurzeln im Inneren und auf den Dächern, giftige Pilze sprießen aus den Holzböden.
Auch mich hat die Packard Plant wie andere “lost places” in Detroit immer wieder magisch angezogen. Ich war sprachlos ob der Größe und der Zerstörung des verlassenen Komplexes, der sich über fast einen Kilometer quer durch den Stadtteil zieht. Wir haben die Industrieruine gerne unserem Besuch aus Deutschland gezeigt. Um Vergangenheit und Gegenwart der Stadt zu verstehen. Die Packard Plant als Teil der glanzvollen industriellen Erfolgsgeschichte von Detroit, des Mittleren Westen, der gesamten USA. Gleichzeitig als trauriger Zeuge des beispiellosen Niedergangs der Stadt und einer ganzen Region. Lässt man sich darauf ein, kann man trotzdem nachfühlen, dass hier einmal geschäftiges Leben herrschte. Als tausende Mitarbeiter durch Werkstore und Bürotüren ein- und ausgingen und glänzende Karossen die Rampen verließen. Dann haben die Menschen den Ort verlassen. Das macht wohl einen großen Teil der Faszination aus. Was passiert, wenn Menschen Großartiges schaffen und es dann sich selbst und den Elementen überlassen.
2013 schreibt die Stadt Detroit die Packard Plant zur Versteigerung aus. Trotz der massiven Zerstörung sind große Teile der Baustruktur noch sehr robust. “Wenn das die Zukunft repräsentiert, dann ist das hier “nichts”. Wir brauchen jemanden, der aus “nichts” etwas macht”, sagt eine Bewohnerin aus der angrenzenden Nachbarschaft in der von “Detroit Free Press” Fotograf Brian Kaufmann 2014 gedrehten Dokumentation “Packard: The Last Shift”. Der Entwickler und Investor Fernando Palazuelo aus Peru hat Großes mit der Packard Plant vor. Er ersteigert sie 2013 für 405.000 US Dollar. Sein Ziel: Den total heruntergekommene Komplex über einen Zeitraum von 10 – 15 Jahren und einem Budget von über 300 Million Dollar in einen lebendigen Stadtteil mit vielfältigen Möglichkeiten zu entwickeln. Es ist nicht das erste Revitualisierungs-Projekt, das Palazuelo mit seiner Firma “Arte Express” anpackt. Seit 35 Jahren renoviert und entwickelt der gebürtige Spanier weltweit historische Bauten und Stadtteile. Seine Projekte aus der jüngsten Vergangenheit umfassen mehr als 100 Gebäude in den historischen Altstädten von Lima, Palma de Mallorca, Barcelona und Madrid. Und nun die Packard Plant, Detroit – das größte industrielle Modernisierungsprojekt in den USA.
“Die Packard Plant ist nur noch eine Hülle. Ich glaube nicht, dass es Hoffnung für einen Wiederaufbau gibt. Auf der anderen Seite war sie Teil einer industriellen Revolution”, sagt Stadthistoriker Jim Balfour im Film. Sie wird es hoffentlich wieder. Teil einer neuen, anderen Erfolgsgeschichte für Detroit. Im Herbst 2019 soll der erste Gebäuderiegel bezugsfertig sein. Im ehemaligen Verwaltungsgebäude der “Packard Motor Car Company” werden acht Unternehmen, u.a. eine Beratungsfirma, ein Ingenieurbüro, ein Barber-Shop, eine Galerie einziehen. In einem anderen Gebäude wird ein Steakhaus mit Event-Räumen eröffnen. Ein Museum über die wechselvolle Geschichte der Packard Plant in geplant. Außerdem wird ein Trainingszentrum gegründet, in dem Menschen aus dem lokalen Umfeld für Jobs, die sich zukünftig hier ergeben, ausgebildet werden. Arte Express hat weiteres Land um die Packard Plant herum erworben, um die zukünftige Entwicklung des gesamten Viertels positiv mit zu gestalten. Sie haben aber auch das Versprechen abgegeben, niemanden aus seinem Haus “heraus zu kaufen”. Im Gegenteil: sie beziehen die Menschen mit ein, halten regelmäßige Treffen mit den Bewohnern der Nachbarschaft ab.
Das gigantische Renovierungsprojekt ist unfassbar ehrgeizig. Die Original-Struktur soll so weit wie möglich erhalten bleiben. Möglichst viele vorhandene Materialien sollen Verwendung finden. Auch Graffitis sollen, wo immer es geht, in das neuen Konzept integriert werden. “Living around art”, dafür steht “Arte Express”. Allein die Aufräumarbeiten verschlingen Millionen. In den letzten vier Jahren wurden fast ausschließlich baufällige Teile niedergerissen, kontaminierte Erde gereinigt und unglaubliche Mengen an Trümmern beseitigt. Dabei helfen auch Menschen aus der angrenzenden Nachbarschaft, die von Arte Express eingestellt wurden. Die Suche nach Investoren und zukünftigen Mietern wie kleinen Manufakturen geht weiter. Man braucht eine enorme Vorstellungskraft und muss absurd optimistisch sein, um sich statt dieser Hülle voll mit Schrott einen dynamischen Stadtteil vorzustellen. Aber man möchte so gerne an eine positive Zukunft glauben. Eine, die auch Happy Endings für diejenigen hat, die die letzten Jahre und Jahrzehnte kaum Chancen im schwierigen wirtschaftlichen Umfeld von Detroit hatten.
Eva
1. November 2017 @ 11:23
Ich sag mal: Upcycling in großem Stil und wünsche dem Projekt gutes Gelingen. Tolle Bilder mal wieder, liebe Britta.
Britta
1. November 2017 @ 11:26
Hey, du liebe Schnell-Leserin! Hast wohl Urlaub, was? 😉 Ich danke dir! Und jetzt wieder ab an den Pool!
Eva
1. November 2017 @ 14:49
🤣😁 Genau! 🏊♂️
Joerg
1. November 2017 @ 12:51
Ein Mahnmal an alle Automobil Hersteller sich jeden Tag auf ein Neues den gesellschaftlichen und technologischen Herausforderungen zu stellen. Ob Ford, GM, VW & Co., wir muessen den Wandel der Mobilitaetsbeduerfnisse fruehzeitig antizipieren und mit gestalten, damit wir nicht zu einer aehnlichen Industrieruine werden. Ich freue mich diese Zukunft mitzugestalten und uns dieser Herausforderung annehmen zu duerfen.
Britta
2. November 2017 @ 11:17
🙂
Doro
1. November 2017 @ 13:23
Hi Britta, das ist ja mal wieder ein toller Bericht, super Einblicke und was für ein geiles, ehrgeiziges Projekt. Da ist man gespannt wie es mal aussehen wird…
Britta
1. November 2017 @ 16:22
Herzlichen Dank, liebe Doro! Ja, man müsste manchmal in die Zukunft reisen können … aber eine wird Detroit immer wieder wert sein!
Karola Ullrich
1. November 2017 @ 16:53
Ein spannender Bericht von Packard Plant.
Man kann sich kaum vorstellen, wie es später vielleicht mal aussehen wird. Es ist ja schon im Grunde eine Vision um dies zu verwirklichen
Toll für Detroit, wenn es gelingt. Es wird
und muss gelingen, damit es weiter aufwärts geht in Detroit.Wir haben nur die Anfänge gesehen.
Du hasst wie immer super berichtet.
Britta
2. November 2017 @ 11:21
Thank you!! Ja, es sind große Visionen, aber auch sicherlich viele kleine Schritte, die Detroit hoffentlich eine positive Zukunft bringen werden!
Susanne Steinbach
2. November 2017 @ 07:19
Liebste Britta,
mal wieder ein faszinierender Artikel über den Wandel der Zeit in Detroit. Unterlegt mit wunderbaren Fotos! Wenn die Detroiter mal nicht weiter wissen sollten, können sie sich auch gerne ans Ruhrgebiet wenden.;)
Denn diesen Wandel haben wir so gut wie geschafft. Wir sind noch dabei, doch ich finde, dabei immer wieder von Erfolgen gekrönt. Wer hätte z.B. vor 30 Jahren gedacht, dass die Folkwang Universität der Künste, Fachbereich Gestaltung, auf dem Gelände der Zeche Zollverein (Weltkulturerbe) mal ihren einzigartigen Platz finden würde? Oder dass aus dem “schwarzen Kohlenpott” gerade die Stadt Essen im Jahre 2017 “Grüne Hauptstadt Europas” werden würde? Also alles ist möglich, wenn die Bürger mit einbezogen werden und ein vernünftiges Management mit Liebe, Zeit und Geduld die Stadt und Landschaften neu gestaltet.
Viel Glück Detroit!!! Du bist es wert!
Britta
2. November 2017 @ 11:31
Liebe Susanne! Ja, zwischen Detroit und dem Ruhrgebiet gibt es sicherlich viele Parallelen. Und ich bin auch davon überzeugt, dass eine Beteiligung der Menschen der Schlüssel für einen positiven Wandel ist. In unserem ersten Jahr habe ich am Eastern Market einen Letterpress Druck gekauft: “Thank you for trying to love me. I know it isn’t always easy – Detroit.” Und genau das denke ich so oft. Vor allem dann, wenn Leute Detroit kaum Chancen geben mögen. Vielen lieben Dank für deinen wunderbaren Kommentar, du Pott-Kind! 😉 Wie wäre es mit einem Gastbeitrag bei mir? Oder einem eigenen Blog? So long … Britta