Sommer

Kaum ein Mensch nirgends – Berlin im Mai

An einem kalten, grauen Dezembermorgen träume ich mich besonders gerne zum letzten Sommer. Und es wird ja auch Zeit, endlich mit der ersten Sommergeschichte anzufangen. Wenn es an dieser Stelle schon keinen Adventskalender gibt. Ho, ho, ho.

Mitte Mai. Christi Himmelfahrt. Langes Wochenende. Noch sind die Hotels in der Stadt für touristische Reisen geschlossen. Wir hatten eigentlich geplant, den Thalys nach Paris zu nehmen. Eine Reise aus der Reihe “wir zeigen jetzt dem Sohn die europäische Metropolen”. Statt “Grand Vitesse” zwischen Köln und Paris Stau auf der A2. Dafür freie Fahrt am Feiertag mit dem Rad in der Hauptstadt. Nur ein wenig durch den Tiergarten radeln, so der Plan. Abseits der Sehenswürdigkeiten, bloß jede Menschenansammlung vermeiden.

Irgendwie finden wir uns dann aber doch am Checkpoint Charly wieder. Aber wo sind die Menschen? An dem ehemaligen Grenzübergang an der Friedrichstraße brummt es normalerweise. Da sieht man das weiße Grenzhäuschen mit den aufgestapelten Sandsäcken davor sonst vor lauter Selfie-Sticks und Instagram Posern aus aller Welt kaum. Mitte Mai 2020: gähnende Leere.

Kurz vor Abzug der Alliierten hatte der Berliner Fotograf Frank Thiel 1994 Fotos von jungen Soldaten der vier Besatzungsmächte gemacht. Die Leucht-Installation am Checkpoint Charly zeigt einen russischen und auf der Rückseite einen amerikanischen Soldaten. Sie blicken jeweils in das Hoheitsgebiet des anderen.

Das Internationale Buchstabieralphabet ist übrigens Namensgeber für den ehemaligen Kontrollpunkt zwischen West und Ost. Nach den Übergängen Helmstedt-Marienborn (Alpha) und Dreilinden-Drewitz (Bravo) ist er der dritte und sicherlich bekannteste von den Alliierten genutzte Grenzübergang. Originalschauplatz des Kalten Krieges und stiller Zeuge unzähliger Fluchtversuche. Wer sich über die Foto-Gelegenheit hinaus über die Geschichte der Berliner Mauer und die persönlichen Schicksale geglückter und gescheiterter Fluchtversuche informieren möchte, geht ins Mauermuseum. Oder schaut sich die kostenlose Open-Air-Ausstellung an. Im beeindruckenden 1:1 Panorama “Die Mauer” des Künstlers Yadegar Asisi bekommt man einen Eindruck davon, wie sich das Leben auf beiden Seiten der Mauer angefühlt haben muss.

Next stop “Gendarmenmarkt”. An diesem wunderschönen Platz würden an einem sonnigen Feiertag im Mai um die Mittagsstunde viele Berlin-Besucher zwischen den monumentalen Zwillingsbauten des Deutschen und Französischen Doms und des Berliner Konzerthauses flanieren.

Die Außengastronomie ist geöffnet und wir setzen uns zaghaft an einen der weit auseinander gestellten Tische, um etwas zu trinken. Es fühlt sich ungewohnt an. Ist es doch unser erster Besuch in einer Gastro seit Mitte März.

Am Abend treffen wir in Kreuzberg liebe Freunde auf der Terrasse des Lieblings-Asiaten. Das erste Abendessen in einem Restaurant. An einem schon warmen Frühlingsabend. Wir haben uns extra früh getroffen, um lange draußen zusammensitzen zu können. Was wir sonst so selbstverständlich konsumieren, wird zum besonderen Event. Wow, wir haben ein Stück von dem Leben zurück, von dem wir nicht glaubten, dass es einmal nicht da sein könnte. Kleine Lehrstunde in Sachen Dankbarkeit in einer surreal wirkenden Hauptstadt im Mai 2020.

In diesem Sinne – macht’ es Euch schön an diesem Nikolaustag und 2. Adventssonntag. Ho, ho, ho!

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Lieber Sommer 2020!

„Ich sauge den Sommer in mich ein wie die Wildbienen den Honig“, sagte sie. „Ich sammle mir einen großen Sommerklumpen zusammen, und von dem werde ich leben, wenn es nicht mehr Sommer ist.“ 

aus: Ronja Räubertochter, Astrid Lindgren

Lieber Sommer 2020,

der Herbst hat dich schon vorletzte Woche abgelöst. Aber ich möchte dir gerne noch ein paar Zeilen schreiben. Du warst ein besonderer Sommer, in sehr besonderen Zeiten. „Wir müssen halt das Beste draus machen“, hörte man oft im Zusammenhang mit deinen großen Ferien. Hand auf’s Herz: ich habe das auch einige Male gedacht. Das Beste? Eigentlich komisch, dass damit gar nicht das Beste gemeint ist. „Das Beste“ meint in dieser Formulierung bestenfalls einen Kompromiss. Einer schlechten Situation irgendwie etwas Gutes abringen. Hoffen, dass man in all‘ dem Schlechten doch noch eine kleine Freude findet.

Das Beste aus dem Urlaub machen, hieß rein praktisch für viele Menschen Urlaub in Deutschland. Kein ‚Dolce Vita‘ in Italien, kein ‚Buenos Dias Matthias‘ in Spanien, kein „Savoir vivre“ in Frankreich. Höchststrafe? Nein! 

Und wenn dann „das Beste“ noch viel besser wird, ist die Überraschung perfekt. Ganz nah reisen, aber gefühlt ganz weit weg sein. Geht. 

Sehr, sehr nah in der eigenen Stadt, ein bisschen weiter raus in der Eifel, etwas weiter nordöstlich in die Hauptstadt und in den hohen Norden an die See. #heimatentdecken. #wirbleibenindeutschland. 

Jetzt wird es Zeit zum Einwecken der Erinnerungen an dich, lieber Sommer 2020. Ich werde meinen großen Sommerklumpen ein wenig entbröseln und nach und nach ein paar frische Blog-Geschichten daraus machen.

Endlich fließen wieder Worte in meine virtuelle Feder. Lange Zeit fiel es mir schwer, zu schreiben. Die Pandemie überstrahlte alles. Keine Geschichte erschien mir wichtig genug in dieser bedrückenden Zeit, in der wir uns alle auf das Wesentliche und „Systemrelevante“ zu konzentrieren schienen. Aber irgendwann wurde auch klar, dass die Freude nicht auf der Strecke bleiben darf. Wir uns Dinge suchen müssen, die „Freuderelevant“ sind. 

Ach, du lieber Sommer 2020, ich habe dich mit unzähligen Geschichten gefüllt. Viele wunderbare Erinnerungen gemacht, an die ich noch lange zurückdenken werden. 

Und du hast mich endlich verstehen lassen, was meine Eltern mit dem Satz „Davon werden wir noch lange zehren“ meinten. 

Während des Lockdowns habe ich oft (und sehr viel intensiver als sonst) an die Zeit in den USA und unsere vielen Erlebnisse und Reisen dort denken müssen. Und siehe da, so vieles wirkt nach. Und wie. Die Erinnerungen an all’ die nachhaltigen Eindrücke und an das viele Schöne legen sich wie eine gemütliche Kuscheldecke auf meine Seele. Ich bin nicht unglücklich darüber, dass das Reisen aktuell eingeschränkt ist. Ich bin zufrieden und versöhnt mit allem, was ich bis hierher erleben durfte. Dankbar für das Bilder in meinem Kopf, die dadurch erst möglich geworden sind.

Nun halte ich deine besonderen Geschichten fest, lieber Sommer 2020. Werde im Herbst und Winter davon zehren. Wenn es früher dunkel wird, der Regen an die Scheibe prasselt und wir weniger Zeit draußen verbringen. Aber es wird auch dann Gelegenheiten geben, kleine Reisen zu machen und daraus neue Energie und Motivation zu schöpfen. Ganz sicher.